Divergentes Denken und ADHS: Unterschätztes kreatives Potenzial
Von Álvaro P. de Mendieta
Die Geschichte ist voller visionärer Köpfe, die Konventionen sprengten und die Welt
nachhaltig veränderten – oft trotz oder gerade wegen ihrer individuellen Eigenheiten.
Vincent van Gogh, Ludwig van Beethoven und Frida Kahlo sind nur einige der vielen
aussergewöhnlichen Persönlichkeiten, die Kunst und Kultur revolutionierten, während
sie mit Depressionen, bipolaren Störungen oder chronischen Schmerzen lebten. In
diesem Zusammenhang rückt auch ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörung) zunehmend in den Fokus der Forschung – nicht nur als
Herausforderung, sondern als potenzielle Quelle erhöhter kreativer Kognition. Während
ADHS klassischerweise als Störung definiert wird, die durch Unaufmerksamkeit,
Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet ist, zeigen immer mehr Studien, dass
genau diese Eigenschaften auch aussergewöhnliche Stärken mit sich bringen können –
insbesondere im Bereich des divergenten Denkens.
Störfaktor oder Schlüssel zu Innovation?
Divergentes Denken, was so viel wie abweichendes oder alternatives Denken bedeutet,
beschreibt die Fähigkeit, ungewöhnliche und originelle Ideen zu entwickeln – ein
Kernaspekt kreativer Prozesse. Menschen mit ausgeprägtem divergentem Denken
hinterfragen mehr bestehende Strukturen, denken über Konventionen hinaus und
erschliessen öfter neue Perspektiven. Gerade hier schneiden ADHS-BetroWene in
zahlreichen Untersuchungen überdurchschnittlich ab. Ihr Ideenfluss ist freier, ihre
Assoziationen unkonventioneller, ihre Lösungsansätze oft überraschend innovativ.
Impulsivität als Hauptkatalysator
Wenn neurodivergente Denkweisen kreative Prozesse begünstigen können, stellt sich
umgekehrt die Frage: Ist aussergewöhnliche Kreativität untrennbar mit einem gewissen
Mass an kognitiver Unangepasstheit verbunden? Erfordert kreatives SchaWen eine
Abweichung von konventionellen Denkmustern oder sogar eine gewisse Inkompatibilität
mit starren gesellschaftlichen Strukturen? Der Musiker, Schauspieler und visionäre
Künstler David Bowie formulierte es einst provokant: „Ein Künstler zu sein, bedeutet,
dysfunktional zu sein.“ Empirische Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit ADHS
in kreativen Aufgaben oft besser abschneiden als neurotypische Personen. In
Experimenten wie dem Alternative Uses Task – bei dem es darum geht, neue
Einsatzmöglichkeiten für Alltagsgegenstände zu finden – und dem Alien Fruit Creation
Task, der zur Erfindung fantasievoller Früchte anregt, zeigen ADHS-BetroWene
überdurchschnittliche Originalität. Allerdings zeigen nicht alle gleichermassen kreativesPotenzial. Studien deuten darauf hin, dass insbesondere die hyperaktive oder
kombinierte Form von ADHS mit gesteigerter Kreativität korreliert, während der
unaufmerksame Subtyp weniger ausgeprägte Vorteile aufweist. Dies impliziert, dass
Impulsivität und Hyperaktivität vermutlich die ausschlaggebenderen Faktoren für
Kreativität und divergentes Denken bei ADHS sind. Auch Motivation und Wettbewerb
spielen eine wichtige Rolle in der Ausprägung divergenten Denkens bei Menschen mit
ADHS. Eine spezifische Studie identifizierte sogar eine bestimmte Genvariante, die
sowohl mit ADHS als auch mit erhöhter Originalität assoziiert ist – ein Hinweis auf eine
tiefere biologische Verknüpfung.
ADHS-Medikation und kreatives Potenzial
Ein kritischer Aspekt ist der Einfluss von ADHS-Medikamenten auf die Kreativität eines
Individuums. Stimulanzien wie Ritalin sind oft die erste Wahl zur Behandlung, da sie die
Aufmerksamkeit steigern und impulsives Verhalten dämpfen. Doch könnten diese
Medikamente zugleich die Spontaneität und Originalität unterdrücken, die viele grosse
Künstler und Erfinder auszeichnete? Die Auswirkungen von ADHS-Medikamenten auf
divergentes Denken sind kaum erforscht. Gleichzeitig wachsen Bedenken hinsichtlich
einer Übermedikation, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Bereits in jungen
Jahren erhalten viele starke ADHS-Medikamente, die nicht nur ihre Konzentration
beeinflussen, sondern möglicherweise auch ihre natürliche Denkweise verändern – mit
unbekannten Langzeitfolgen. Da ADHS ohnehin mit einer erhöhten Anfälligkeit für
Substanzmissbrauch verbunden ist, muss sorgfältig abgewogen werden, welche
Behandlungsmethoden langfristig sinnvoll sind. Denn wenn Medikamente nicht nur das
Verhalten regulieren, sondern auch zentrale kognitive Prozesse verändern oder gar
einschränken, könnte dies tiefgreifende Auswirkungen auf die kreative Zukunft unserer
Gesellschaft haben.
Neurodiversität als Kreativitätsquelle verstehen
Jahrzehntelang wurde ADHS als Problem betrachtet, das es zu korrigieren gilt. Doch
was, wenn wir falsch liegen? Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Perspektive zu
hinterfragen. Menschen mit ADHS stehen jedoch auch vor vielfältigen
Herausforderungen, die weit über Konzentrationsprobleme und Hyperaktivität
hinausgehen. Sie sind häufiger mit Risiken wie Suchtverhalten oder einer erhöhten
Unfallgefahr konfrontiert, aufgrund von Impulsivität, Ruhelosigkeit und einem geringeren
Gefahrenbewusstsein. Diese Faktoren machen es oft schwieriger, Routinen einzuhalten,
langfristige Ziele zu verfolgen oder sich in sozialen oder streng strukturierten
Umgebungen zurechtzufinden. Daher ist eine ausgewogene Sichtweise entscheidend,
um ADHS nicht auf ein Defizit zu reduzieren, es aber auch nicht in einer übermässig
romantisierten Verbindung zu Kreativität und Intelligenz darzustellen. Neben der
dringenden Notwendigkeit weiterer Forschung bedarf es eines grundlegenden
Umdenkens in Bildung, Forschung, Therapie und Arbeitswelt – weniger starre
Strukturen, mehr Raum für kreative Entfaltung und Aufklärung.